Die Händler sind mit der diesjährigen En Primeur-Kampagne von Bordeaux nicht zufrieden. Die Frage, die sich nun stellt: Sind die Châteaux dabei, die goldene Gans zu schlachten?

Bei der Kampagne (und der davor und davor und davor…..) kommt mir ein Sprichwort meiner Grossmutter in den Sinn: «Wenn du in einem Loch steckst, hör auf zu graben.» Offenbar kennt man dieses Sprichwort im Bordeaux nicht wirklich.

Denn die Château-Besitzer in Bordeaux scheinen partout nicht zu glauben, dass sie in einem Loch stecken, und aus ihrer Sicht stecken sie auch in keinem. Die Produzenten haben ihre 2022er verkauft – oder zumindest den Teil, den er freigegeben haben – und somit sind sie jetzt das Problem von jemand anderem. Und ja, es war ein grossartiges Jahr mit grossartigen Weinen. Die, die welchen gekauft haben, können sich getrost auf die Schulter klopfen, denn sie werden hervorragende Weine im Weinlager liegen haben.

Das Problem aus der Sicht des Teils der Branche, der kein Château besitzt, ist, dass nicht genug Leute partizipiert haben. Matthew O’Connel vom Bordeaux Index hält 2022 für eine kleine, unbedeutende Kampagne. Sonst mag sich keiner offiziell äussern. Der Grundtenor aber ist überall derselbe: «Viel zu teuer», «die Idee der Primeur Weine schaufelt sich selbst das Grab», bis hin zu «En Primeur ist tot». Dabei muss ich leise in mein Fäustchen husten und mich dabei erinnern, sowas schon vor Jahren selbst gesagt zu haben. Aber bekanntlich leben totgesagte ja immer etwas länger.

Stadt Bordeaux Häuserzeitle mit Brunnen

Die Kluft zwischen Bordeaux und dem Rest der Welt, scheint nur noch grösser zu werden. Die Weine sind sehr gut, das bestreitet niemand. Niemand bestreitet auch, dass sie in einem heissen, trockenen Jahr, welches ganz andere Aromen hätte hervorbringen können, ein Triumph waren, welches grosse Weine hervorbrachte. Aber es ist wie immer: Die Bordelaiser glauben erneut den grössten Wein der Geschichte gemacht zu haben. Dabei hatten sie wohl auch mehr Glück als Verstand, denn man könnte hier schon fast von einem Wunder sprechen, sind die Weine nicht so süss und üppig ausgefallen wie 2003, sondern mehr im «klassischen Stil». Das macht den Jahrgang und dessen Weine nicht zum Besten aller Zeiten.

Dann kommt noch die Geschichte mit dem Preis, der durchschnittlich um 15 Prozent gestiegen ist. Bei den Top-Notch Châteaux sogar um 20-40%, was ein happiger Aufschlag bedeutet. Natürlich kaufen die Sammler, die jedes Jahr kaufen, auch dieses Jahr – aber eben weniger.

Es liegt in der Natur der Sache: Der Handel will Wein verkaufen. Ja, man könnte argumentieren, dass seit Menschengedenken einige Händler jedes Jahr vor Preiserhöhungen gewarnt und dann die Weine gekauft und an ihre Kunden verkauft haben. Wie geht der Spruch schon wieder? «Wasser predigen und Wein trinken» oder war es umgekehrt? Ich vermute aber, dass die Stärke des Handels schlicht weg das gemeinsame Blöken der immer wieder gleichen Leier ist. Aber wenn ein grosser Händler darauf hinweist, dass „in 10 Jahren nur in dessen zwei en Primeur richtig funktioniert hat“, dann sollten wir uns vielleicht daran erinnern, wofür en Primeur eigentlich da ist.

Happy Châteaux

Wie lief das eigentlich früher? Für die Châteaux war En Primeur ursprünglich ein Mittel, um Cashflow zu generieren. Heute brauchen die Produzenten, für die En Primeur gut funktioniert – und das sind in der Regel nur die grossen Namen – diesen Cashflow nicht mehr so dringend, wenn überhaupt.

Für die Verbraucher aber hat sich so einiges geändert. Früher konnte man davon ausgehen, dass wenn man sich ein paar Kisten in das Weinlager legt, der Preis auf dem Sekundärmarkt im laufe der nächsten 15 bis 20 Jahren stetig steigen wird. Dieses Modell ist bis auf wenige Ausnahmen tot.

Aber selbst wenn man akzeptiert, dass dies nicht mehr zeitgemäss ist, muss man sich fragen, warum man für einen Wein, den man noch nicht trinken kann, en Primeur mehr bezahlen will als für einen gereiften Jahrgang desselben Weins. Die Antwort der Châteaux ist so einfach wie die eines Staubsaugerverkäufers an der Türe: Sie machen heute eben bessere Weine als heute. Er war schon immer gut, aber jetzt ist er eben noch besser. E voila und schon sind 20% gerechtfertigt.

Bei Angelus muss man bis 2009 zurückgehen, um einen Jahrgang zu finden, der derzeit teurer ist als der 2022er En Primeur. Der 2022er kostet in der Schweiz etwa 5’180.- für eine 12er-Kiste; der 2019er ist für 4’390.- erhältlich, der 2010er für 4’900.- und der 2009er für 5’600.- Dann sinken die Preise wieder und der 2005er ist wieder etwas teurer.

Beispiele dazu gibt es dazu viel mehr als einem lieb ist: Ducru- Beaucaillou oder Léoville-Las Cases. Hier kostete der 22er mehr als der 2016er der mehrfach mit 100 Punkten bewertet worden ist.

Wenn man von den Leuten verlangt, für einen 2022er mehr zu bezahlen als für einen bekanntermassen grossartigen Jahrgang, der bereits trinkfertig ist, dann verfehlt man den Zweck von En Primeur. Die Idee des En Primeur besteht darin, einen unreifen Wein zu einem viel niedrigeren Preis als einen reifen Wein zu kaufen, ihn 15 Jahre lang zu lagern und ihn dann zu verkaufen oder zu trinken. Wenn man gegen diese Regeln verstösst, macht das ganze einfach keinen Sinn.

Der 2019er wurde während Covid veröffentlicht und viele Leute haben wieder En Primeur gekauft, aber die Bordelaiser dachten, dazumal wohl sie würden betrogen. Sie erinnern sich, die Preise waren dazumal deutlich niedriger. Einerseits war der Markt für kurze Zeit unterbrochen, anderseits erhoben die USA 15% Strafzölle auf Weine aus der EU. Und so wie es jetzt ausschaut, wollen die Produzenten wieder richtig einsteigen. Das Problem dabei ist, dass die Käufer dachten, dass die Preise von 2019 wieder da sind, wo sie sein sollten. Die Ferude dazu hielt nicht lange.

Der Handel wollte also unbedingt, dass die diesjährige Kampagne ein Erfolg wird. Denn eine gute En Primeur-Kampagne ist nicht nur eine sechs bis siebenwöchige Konzentration des Handels auf Bordeaux und damit die Art von Werbung für die Region, die man mit Geld nicht kaufen kann, sondern sie fördert auch das Interesse an Bordeaux für den Rest des Jahres. Und im Idealfall gibt es gerade dann, wenn dieses Interesse nachlässt, eine weitere erfolgreiche Kampagne, um den Dingen wieder den nötigen Anstoss zu geben. Die Kampagne für 2019 hat so wunderbar funktioniert: Das Interesse war gross und der Preis schien den Konsumenten zu gefallen. Doch in diesem Jahr „sehen wir kein gesteigertes Interesse an den älteren Jahrgängen“, so ein Händler. „Diese Kampagne hat nicht dazu beigetragen, das Interesse an Bordeaux zu steigern – und das wird gerne übersehen.

Weinflaschen auf Tisch während Bordeaux Primeur Verkostung

Bordeaux Primeur Verkostung Bild: Adrian van Velsen

Der Négociant-Blues

Aber aus Gesprächen mit Château-Besitzern gewinnt man immer mehr den Eindruck, dass einige von ihnen sich über die Gewinne der Negociants und damit vielleicht auch der Einzelhändler ärgern. Offenbar ist der Grundtenor oft, dass man halt mal Geld verdient und manchmal eben nicht – c’est la vie? Das ist schade und stellt IMO ein System in Frage, welches so lange gut funktioniert hat. Wird es so noch lange weiter gehen? Ich habe meinen Zweifel.

Logischerweise sind nicht alle Negociants gleich: Einige sind riesig und können es sich leisten, Lagerbestände zu halten und sie langfristig zu verkaufen. Andere sind nicht so gross und können es sich nicht leisten, viel zu lagern. Diesen geht es gut in Jahren, in denen sie alles sofort weiterverkaufen können, oder wenn die Zinssätze bei 0,8 % liegen, wie im letzten Jahr. Jetzt, bei 4-4,5 Prozent, wenn sie ihre Einkäufe zwei Jahre lang finanzieren müssen, sind das mehr als 9 Prozent. Die meisten Negociants machen wahrscheinlich eine Marge von 3-12 Prozent. Einige Spitzenbetriebe – vielleicht die ersten fünf oder zehn – verdienen mehr, aber für den Rest ist die Marge sehr gering und somit nicht wirklich ein gutes Geschäft.

Es scheint auch, dass viele Negociants ihre Zuteilungen für einige Weine in diesem Jahr freiwillig reduziert haben. Das ist riskant, denn wenn Sie ihre Zuteilung bei den grossen Châteaux nicht voll ausschöpfen, bekommen sie sie nicht wieder zurück. Die Négociants haben einen Monat Zeit, sich zu entscheiden, nachdem das Angebot von einem Château veröffentlicht wurde. Da ist viel Druck und wenig Zeit gute Entscheidungen zu fällen.

Kundenservice? Ein Lob an Barton

Die Bartons verstehen es, sich um ihre Kunden zu kümmern. Ich finde, dass die Châteaux, die von bescheidenen Menschen geführt werden, welche auch die die Welt bereisen, dazu neigen, ihre Kunden zu verstehen und sie nicht über den Tisch zu ziehen. Châteaux, die von Profis im Auftrag abwesender Besitzer geführt werden, kümmern sich nicht so sehr um ihre Kunden. Aber bevor die letztgenannte Kategorie nach den Telefonnummern ihrer Anwälte sucht, möchte ich hinzufügen, dass es Ausnahmen gibt. Und zwar in beiden Kategorien.

Dieses Jahr gab es aber nicht nur schlechte Nachrichten. Einige Weine waren überzeichnet, und die Konsumenten konnten nicht genug davon bekommen; und wenn man immer noch mit dem Gedanken spielt, etwas zu kaufen, gibt es einige weniger bekannte Weine zu vernünftigen Preisen, mit einem guten Verhältnis zwischen Punktzahl und Preis.

Mehrere Quellen weisen darauf hin, dass die geringe Menge an freigegebenen Weinen ein positiver Faktor war. Denn es bedeutet wohl, dass sich die Weine verkauften. Natürlich war es ein kleiner Jahrgang, aber darüber hinaus haben einige Châteaux nur die Hälfte ihres Weins freigegeben. Hätten sie nach dem alten Modell veröffentlicht (also grössere Tranchen), hätten sich die Weine in 95 Prozent der Fälle wohl nicht verkauft.

Aber dieses neue Modell, so wenig Wein herauszubringen, wirft auch die Frage nach der Zukunft von En Primeur auf. Wahrscheinlich sind es nur die Spitzenchâteaux, die so viel zurückhalten, oder sie versuchen herauszufinden, wie sehr sie den En-Primeur-Markt belasten können und trotzdem damit durchkommen. Versuchen sie, das Burgund zu imitieren, indem sie kleine Weinmengen auf den Markt bringen? Oder freuen sie sich, dass sie neue Referenzpreise für En-Primeur-Weine festgelegt und genügend Volumen umgeschichtet haben, um dies – aus ihrer Sicht – als Erfolg verbuchen zu können?