„Es gibt Jahre, die Fragen stellen, und Jahre, die Antworten geben,“ schrieb einst Zora Neale Hurston, die berühmte Schriftstellerin und Folkloristin, irgendwann in den frühen 50er. Wenn Hurston eine mittelmässige Wein-Autorin gewesen wäre, hätte sie wohl noch hinzugefügt: „… und Jahre, die ein Jahrhundertjahrgang sind.“

Wenn Sie auf solche Dinge achten, dann hören Sie wahrscheinlich auch das, was wir gerade aus dem Napa Valley hören, nämlich dass 2023 der „Vintage of a Lifetime“ sein wird. Keine geringere Autorität als Karen MacNeil, Autorin der *Wine Bible*, verkündete kürzlich auf YouTube:

„Ich habe keinen Zweifel, dass 2023 als einer der phänomenalsten Jahrgänge in die Geschichte von Napa Valley eingehen wird.“

Man berichtet aus dem Nappa, dass Winzer von der „Frische, Reinheit und Eleganz“ des Jahrgangs 2023  regelrecht schwärmen.

Verzeihen Sie mir, aber das fühlt sich sowas wie ein Déjà-vu an! Denn es sind noch keine drei Jahre vorbei, da schwärmte Antonio Galloni in Vinous von den zwei atemberaubenden aufeinanderfolgenden Jahrgängen in Napa (2018 und 2019), wie er sie noch nie gesehen hatte. Auch wenn man in das  vertrauenswürdige Wine Spectator Jahrgangsdiagramm schaut, sieht man, dass Napa Valley’s Jahrgang 2018 mit 99 Punkten und 2019 mit 97 Punkten bewertet wurde und auf den mit 98 Punkten bewerteten 2016er folgte. Spulen wir etwas weiter zurück: Kurz vor der Jahrhunderwende erklärte 1997, ebenfalls mit 99 Punkten bewertet, zum „Jahrgang des Jahrhunderts“. Wenn 2023 also tatsächlich der „Vintage of a Lifetime“ ist – und wenn Punkte und Jahrgangscharts tatsächlich zählen – könnte man also vernünftigerweise annehmen, dass der Wine Spectator dem Jahr 2023 perfekte 100 Punkte geben muss, oder? Warum also nicht gleich 101?

Bordeauxc und die Jahrundertjahrgänge

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts erklärte der Vater aller Weinkritiker,  Robert Parker drei Jahrgänge in Bordeaux zum Jahrhundertjahrgängen, beginnend mit 2005 („das perfekte Jahr“ schrieb er). Es folgte 2009, den die meisten anderen Kritiker auch zum Jahrgang des Jahrhunderts erklärten. Und schon im nächsten Jahr, 2010, war es bereits wieder so weit. Je nachdem, wen man fragt, könnte auch 2016 ein Jahrhundertjahrgang gewesen sein. Und angeblich auch 2018, 2019 und 2020, wobei 2020 vom Jahrgang 2022 und dieser wieder vom 2023 überstrahlt wird. Sie sehen, der Begriff «Jahrhundertjahrgang» ist nicht nur leicht inflationär, sondern gehört zum Standardrepertoire der Marketingmaschinerie der cleveren Franzosen.

«Es würde mich nicht überraschen, wenn sich in ein paar Jahren einige 2023er den 2022er-Weinen als überlegen erweisen.»
Thomas Duclos (Önologe und Berater von Château Troplong Mondot)

In Bordeaux scheint der einzige Massstab sowieso nur der zu sein, ob es ein Jahrhundertjahrgang ist oder nicht. Die Schlagzeile von Vinous zum schlechten Bordeaux-Jahrgang 2013: „Definitiv nicht der Jahrgang des Jahrhunderts.“ Die Académie du Vin Library sagte über Bordeaux 2022: „Ich sage nicht, dass es ein weiterer ‚Jahrgang des Jahrhunderts‘ ist, aber es war dennoch ein aussergewöhnliches Jahr.“ Dazu kommen dann noch alle Weinhändler, die sich um keine Superlative zu schade sind. Das Motto scheint klar zu sein: Jeder Tag steht ein Dummer auf, man muss ihn nur finden.

Bereits 1982 schrieb der Wein-Kritiker Terry Robards von der *New York Times*: „Oenophile auf dieser Seite des Atlantiks haben sich an das französische Phänomen gewöhnt, das als Jahrhundertjahrgang bekannt ist. Die Franzosen, die nicht nur unerschrockene Winzer, sondern auch gute Geschäftsleute sind, haben den kommerziellen Wert erkannt, von Zeit zu Zeit einen solchen Jahrgang zu erklären.“

Ich wünschte, ich würde etwas so sehr lieben wie Leute in der Weinindustrie es lieben, Superlative auf Traubenernten zu werfen, Jahre bevor jemand den Wein tatsächlich trinken wird. Und ich frage mich, während sich die Weinwelt einem Generationswechsel unterzieht, ob der Hyperfokus auf „beste“ Jahrgänge überhaupt hilfreich ist. Jahrgänge zu bewerten wird oft zu einer reduktiven Kurzform und riskiert, potenzielle Weinliebhaber durch eine weitere Form von Gatekeeping und Exklusivität im Wein abzuschrecken.

Natürlich macht Vergleichen Spass. Grösser, schneller und weiter, ist nicht nur in der Männerwelt ein weit verbreitetes Hobby. Wer liebt es nicht, darüber zu streiten, wer oder was am besten ist: War Jean Connery oder Daniel Craig der beste Bond? War Maria Callas oder Anna Juriewna Netrebko die beste Sopranistin welche die Welt je hatte? Beatles oder Rolling Stones? Französisches oder italienisches Essen? Und ja, ich kenne ein paar Weinfreunde  welche ganze Nächte darüber streiten können, ob 1996 oder 1997 im Barolo der Jahrgang des 20. Jahrhunderts war, oder ob 2005, 2010 oder 2016 Châteauneuf-du-Pape der Jahrgang des 21. Jahrhunderts ist. Dabei geht vergessen, dass ein guter Winzer in fast jedem Jahr, einen guten Wein auf die Flasche ziehen kann.

„Schlechter“ Jahrgang – aber für wen?

Um eines klarzustellen: Ich glaube an Jahrgangsvariationen und ich bin auch kein Jahrgangsverweigerer. Natürlich produzieren unterschiedliches Wetter und unterschiedliche Bedingungen in verschiedenen Jahren unterschiedliche Ergebnisse. Aber es gibt zu viel Betonung darauf, gute und schlechte Jahrgänge zu erklären, und zu viel vom Weingeschäft – vom Produzenten über den Importeur bis hin zum Händler – dreht sich um diese Art von Prognostik.

Kara Daly drückte in ihrem Newsletter „Wine Is Confusing“ kürzlich Skepsis gegenüber dem Jahrgangsgerede aus („Ein Plädoyer für den Kauf schlechter Jahrgänge“). Daly argumentiert, dass der Fokus auf die Erklärung von Jahrgängen als „gut“ und „schlecht“ den Dialog über Wein abflacht und für die meisten Konsumenten nicht besonders ansprechend ist. Meiner Meinung nach geht es nicht nur darum, jedes Jahr die perfekte Trauben zu ernten und daraus guten Wein zu keltern, denn das ist die Grundaufgabe eines jeden Winzers. Die Kunst ist es doch, die Jahrgangsvariationen auf die Best mögliche Art wieder geben zu können. Somit sind Jahrgangsvariationen doch das coolste überhaupt. Es macht Wein so spannend und vielseitig wie kaum ein anderes Getränk auf der Welt. Alles andere ist doch oft subjektiv.

Denn das Problem bei der Erklärung von „guten“ und „schlechten“ Jahrgängen sollte immer die Frage aufwerfen: Gut oder schlecht für wen? Aus der Perspektive eines Winzers könnte ein schlechter Jahrgang einer sein, in dem sie einen erheblichen Teil ihrer Früchte durch Frost oder Dürre verlieren. Aber derselbe Jahrgang könnte aufgrund seiner niedrigen, konzentrierten Erträge (ganz zu schweigen von seiner Seltenheit) ein Liebling von Kritikern und Sommeliers auf der ganzen Welt werden.

Dann gibt es subjektive Geschmacksfragen. Viele unter der erfahrenen Generation von Kritikern, die immer noch unsere Weinagenda bestimmen, bevorzugen hedonistische Weine aus wärmeren, reiferen Jahrgängen. Sind das immer die „besten“ Jahrgänge? Ich persönlich bevorzuge die  kühleren, subtilere Jahrgänge einzukellern, die einige Weinfreunde als „unreif“ bezeichnen würden. Meiner Meinung nach, perfomen diese Weine auf der langen Strecke besser. Aber auch das ist höchst subjektiv.  Denn keine der beiden Präferenzen ist ein Hinweis darauf, was „am besten“ ist. Aber wie  Sie sicher bereits selbst feststellten, sind Jahrhundertjahrgänge gut fürs Geschäft. In einer Welt aus guten und schlechten Jahrgängen – mit vielen Jahren des reifens, bevor wir die Qualität wirklich kennen – hat sich ein ganzes Ökosystem von Erklärern, Interpreten, Wahrsagern und Hype-Influencer entwickelt. Es ist schwer, sich eine Weinwelt ohne all diese heisse Luft vorzustellen.

Wo es nie einen Jahrhundertjahrgang gibt

Im übrigen wird solche Jahrgangs-des-Jahrhunderts-Rhetorik nie gleichmässig angewendet. Wann haben Sie das letzte Mal gehört, dass die Weinwelt von einem Jahrhundertjahrgang im Loire-Tal spricht? Dort gibt es sicherlich auch sehr gute Jahrgänge… Diejenigen von uns, die sich auf die Region konzentrieren, wissen von der Serie guter Jahrgänge von 2015 bis 2018. Es gibt etwas Gerede darüber, ob 2015 oder 2018 „aussergewöhnlich“ oder „legendär“ ist, aber niemand trommelt für einen von beiden als Jahrhundertjahrgang. Da stellt sich der Laie doch die Frage – warum nicht?

Tatsächlich gab es oft eine kritische Voreingenommenheit gegen das Loire-Tal, eine subtile Abwertung durch die grossen Kritiker. Im vertrauenswürdigen Jahrgangsdiagramm des „Wine Spectator“ wurde in den letzten 20 Jahren kein Jahrgang von Loire Cabernet Franc oder Sauvignon Blanc höher als 92 bewertet. Wie ist das möglich? Währenddessen wurden in Bordeaux von 2002 bis 2022 elf Jahrgänge mit 93 Punkten oder höher bewertet. Es sind wohl die alten Pfade, wie Gatekeeper eine Hierarchie im Wein aufrechterhalten versuchen. Ich hoffe diese Brücke wird bald einstürzen.

«Die 2022er waren sehr fruchtig, aber die Weine aus 2023 haben mehr Komplexität. (…) 2022 ist grossartig, aber ich mag die 2023er viel lieber.» Noemie Durantou Reilhac (Önologin Château L’Eglise Clinet)

Im Vergleich von den Prestige-Regionen, wo die Investition von Sammlern auf dem Spiel steht, ist es schon unheimlich, wie oft  Jahrhundertjahrgänge wie Pilze im Herbst aus dem Boden schiessen. Nehmen Sie Brunello di Montalcino, welches in den 90er und anfangs der Jahrtausendwende sehr gefragt war. Dann kam 2008 der Brunello-Skandal. Man hat herausgefunden, dass viele Winzer illegal fremdes Traubengut beifügten, um die Produktion zu erhöhen. Dann kam der «Grottenschlechte» Jahrgang 2014, gefolgt von, Sie wissen es – von zwei Jahrhundertjahrgängen. Igendwie bit Crazy, isn’t it?

Oft ist aber das grösste Problem dieser überhitzten Jahrhundertjahrgangsdikussioin, dass sie sich als falsch herausstellt. Denn wir können nun wirklich schlecht voraussagen, wie sich die Weine verhalten und wie gut sie wirklcih reifen können. Zu viele Faktoren sind davon abhängig, eine gute Lagerung der Weine ist dazu nur ein Puzzelteil. Man kann das auch unter anderem daran erkennen, dass wirklich nur sehr selten eine zweite Meinung gebildet wird und ein Kritiker auf älter Jahrgänge zurückkommt. Wenn, dann ist es oft nur, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen für die eigene Prognose, die er dazumal getroffen hat.

Denn sobald einige Jahre vergangen sind, sind diejenigen, die „Jahrhundertweine gekauft und in ihren Kellern verstaut haben, ziemlich auf sich allein gestellt. Lange nach dem ersten Hype hört man oft nur noch durch Klatsch oder in Online-Foren von der Qualität des Jahrgangs. Hat der Burgunderjahrgang 2005 wirklich seinen Hype erfüllt? War 2019 in der Wachau wirklich so gut wie 1999 oder 2009? Ist der Napa-Jahrgang 2003 wirklich so schlecht, wie man sagte?

Aber zu dem Zeitpunkt, an dem diejenigen, die die Flaschen gekauft haben, anfangen, diese Fragen zu stellen, haben sich die Jahrgangs-des-Jahrhunderts-Leute bereits die Hände davon gewaschen. Denn sie sind bereits zum nächsten Jahrhundertjahrgang übergegangen.

Kennen Sie noch Weinbaugebiete wo es keine Jahrundertjahrgänge gibt? Teile es uns in den Kommentaren mit.